Diese Woche befinde ich mich in Israel. Mal wieder. Ich bin gerne hier. Es ist wärmer als in Deutschland, die Menschen sind herzlicher, das Essen unglaublich lecker und Auto fahren macht meinem Mann hier viel mehr Spaß als zu Hause. Hier denke ich anders.
Vor langer Zeit erwachte der Wunsch in mir, einmal das moderne Hebräisch sprechen zu können. Mein Gehirn zog sofort die Notbremse: Da musst du anders denken. Das ist zu schwer, ganz andere Buchstaben und von rechts nach links. Du würdest ewig brauchen und wozu das Ganze? Israel funktioniert auf Englisch einwandfrei.
Dann wurde der Wunsch lauter und ich lernte Avi kennen. Avi ist Jude aus Israel und lebt mit seiner Familie in Stuttgart – und er ist ein begnadeter Lehrer.
Zu meiner ersten Unterrichtsstunde brachte ich ein Vokabelheft mit. Das legte ich sorgsam auf Avis Küchentisch ab und dabei fiel mir ein: Ich muss das Heft ja anders herum legen. Der Gedanke wurde augenblicklich zu einem Satz und ich hörte mich sagen: „Bei euch liest man ja anders herum.“
Ist anders richtig oder falsch?
Während ich diesen Satz ausspreche, beginnt mein Gehirn auf Hochtouren zu arbeiten. Was heißt anders herum? Anders als ich es gewohnt bin? Anders als üblich? Anders falsch oder anders richtig?
Avi führt mich in einem kurzen geschichtlichen Abriß durch die Schreibstile der Antike und Moderne. Die meisten semitischen Sprachen wie Arabisch und Hebräisch werden heute noch von rechts nach links geschrieben. Bei den alten Griechen gab es eine variable Schreibrichtung, man konnte von rechts nach links schreiben, von links nach rechts oder von oben nach unten.
Die Entwicklung der Schrift wie wir sie heute kennen hat Jahrtausende gedauert. Sprache begann mit Bildern. Und so bedeutet ein hebräischer Buchstabe nicht nur einfach einen Buchstaben. In jedem der 22 Buchstaben stecken Bilder, Symbole, Zahlen.
Israel – Start up Nation
In den folgenden Wochen werden aus Buchstaben Sätze. Ich lese Dialoge in meinem Sprachbuch, bin fasziniert über Bilder in einzelnen Buchstaben. Die Notbremse meines Gehirns hat sich als völlig überflüssig herausgestellt. Es macht Spaß Woche für Woche mehr Vokabeln zu kennen und als ich mich das erste Mal mit einer Israelin in holprigem Hebräisch unterhalte, bin ich stolz wie Oskar.
Inzwischen verstehe ich auch, warum Israel eine Start-up Nation ist. Warum Tel-Aviv das neue Silicon Valley ist. Wer ständig zwischen links und rechts switched wie ein Israeli – in einem Moment Hebräisch spricht und im nächsten Englisch – der trainiert seine Gehirnhälften.
Wenn wir mit israelischen Führungskräften zu tun haben, fällt mir auf, dass Worte wie: New Work und Digitalisierung kaum benutzt werden. Seit 70 Jahren ist sowieso alles neu. Unterschiedlichste Kulturen treffen in Unternehmen aufeinander, lernen voneinander, streiten miteinander.
Wohlfühlen im Chaos
Und weil das so ist, bleibt Raum für Neues, ausprobieren, scheitern, von vorne anfangen. Deutsche Arbeitnehmer in Israel sagen uns: „Am Anfang musste ich mich an eine mehr oder weniger chaotische Arbeitsweise gewöhnen. Heute kann ich es mir nicht mehr anders vorstellen. Hier ist alles erlaubt. Ich darf ausprobieren und wenn es nichts ist, beginne ich von vorne.“
In Israel wird nicht nur hebräisch gesprochen, sondern auch hebräisch gedacht.
Unser west-europäisches Denken ist beeinflußt vom griechischen Denken. Wir denken in Kategorien – Schwarz-Weiß; Richtig –falsch; gut – schlecht. Wir treffen Entscheidungen auf der Grundlage von Wissen und Vernunft.
Wer nur von links nach rechts denkt, denkt eben immer nur in eine Richtung. Was ich kenne, erscheint logisch. Hebräisches Denken gibt den Freiraum, mutig neue Entscheidungen zu treffen, aus dem Boot der Sicherheit auszusteigen und uns auf das Fahrwasser von Unsicherheit, Mut und Neuem zu wagen.
Ich darf Fehler machen
Hebräisches Denken hat als Grundlage nicht Wissensvermittlung, sondern Anwendung und Erleben von Wissen. Lernen ist in erster Linie nicht Wissenstransfer, sondern Beobachten des Lehrers, Nachahmen, Ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Dadurch wird der Handlungsspielraum deutlich größer.
Ich darf Fehler machen, es darf etwas schief laufen. Das ist kein Weltuntergang, sondern die Möglichkeit, den Kurs zu korrigieren, Neues zu entdecken und auszuprobieren. Daher zielt Lernen im hebräischen Kontext nicht in erster Linie auf Wissensvermittlung, sondern auf Lebens- und Charakterveränderung.
Ich bin gerne in Israel unterwegs.
Hier lerne ich immer wieder aufs Neue, dass Denken keine Einbahnstraße ist.
Zum Weiterdenken:
- Vielleicht hängen Sie schon lange an einem bestimmten Problem fest. Suchen Sie sich einen Gesprächspartner aus einer anderen Kultur und schildern Sie ihm Ihr Problem. Und dann fragen Sie ihn nach seiner Meinung, seinem Rat. Was würde er/sie tun?