Denk doch mal positiv!
Sieh doch das Gute dran!
Dein Denken prägt dein Leben und deinen Alltag- think positive!
Aufs erste Hören ahnt man nicht, dass diese Sätze und die Haltung dahinter, zum Lebensstil geworden, toxisch sein können. Toxisch? Giftig? Du findest das weit hergeholt?
Beleuchtet man diese Sätze genauer, steckt darin die Aufforderung, eine Situation, die schmerzt, Trauer hervorruft, Angst macht oder bedrückt, durch die Kraft der eigenen Gedanken in ein Licht zu rücken, das immer alles positiv erscheinen lässt. Dem eigenen Erleben eine positive Wende und dem Lauf der Dinge einen Schubs ins Glückliche zu geben.
Du hast den langersehnten Job nicht bekommen? Macht doch nichts, dann wartet bestimmt was Besseres auf Dich.
Du hattest ein schwieriges Gespräch mit Deiner besten Freundin, die eure Freundschaft aufgeben will? Aber, hey, wenigstens scheint heute die Sonne.
Fühlst Du Dich schlecht oder überfordert, bewerte dies mit einer gedanklichen Kraftanstrengung einfach positiv. Lenke Dein Leben durch mentale Stärke in eine unbeschwerte Zukunft!
Gefühle einfach abtöten?
Diese Haltung kann lange Zeit gut gehen.
Wird es aber zum Lebensmotto und werden negative Gedanken und Gefühle nicht mehr zugelassen, vergiftet dies Dein Leben.
Wir können unsere Gefühle nicht von unserem Körper und seinen Organen, Zellen und Funktionen entkoppeln. Jedes Gefühl ändert auch etwas an der Hormonausschüttung in unserem Körper, an unserer Atemfrequenz, unserem Herzschlag, unserem Immunsystem, der Verdauung und vielem mehr.
Und jedes Gefühl ist ein Hinweis darauf, was unser Körper braucht, um im Gleichgewicht zu bleiben.
Wenn wir es zum Lebensmotto machen, immer positiv zu denken, beschneiden wir uns einer Quelle, die uns hilft, unsere psychischen und körperlichen Bedürfnisse wahr und ernst zu nehmen.
Wer immer nur positiv denkt, wird krank
Eine Reise in die Vergangenheit lohnt sich
Doch wie kann es sein, dass so viele Menschen einen Gewinn darin sehen, vor sich selbst und vor anderen ihre wahren Gefühle in ein anderes Licht zu stellen?
Eine Reise zurück in die eigenen Kindertage kann erhellend sein.
Wie erinnerst du deine Kindheit?
Welche konkreten Begebenheiten kommen dir in den Sinn, wenn du danach gefragt wirst? Positive wie negative.
Keine Kindheit ist frei von Verletzungen, keine Mama, kein Papa kann sein Kind so bedingungslos lieben wie es das bräuchte und ihm all das geben, was sein innerstes Bedürfnis ist.
Wir alle haben in unserer Kindheit Verletzungen davongetragen, genauso wie auch unsere Eltern in ihrer Kindheit. Manches Mal waren die seelischen Schmerzen für uns zu groß.
Und weil ein Kind unbedingt darauf angewiesen ist, von seinen Eltern versorgt zu werden, weil sein Überleben davon abhängt und es keine Chance hat, davon zu laufen, aus diesem Grund gibt es eine kluge und sehr sinnvolle Überlebensstrategie: Wenn die Umstände zu schwer sind, um sie realistisch wahrzunehmen, wird im kindlichen Gehirn die Situation positiv bewertet. So hart sie auch sein mag.
Meine Gefühle sind nicht wichtig
Vielleicht hat ein Kind gelernt, dass es funktionieren muss, um Teil der Familie bleiben zu können. Vielleicht durften eigene Gefühle nicht sein, weil man auf der Hut sein musste um herauszufinden, wie die Stimmungslage des zu cholerischen Zornanfällen neigenden Vaters war.
Oder Mama war oft traurig und emotional nicht erreichbar. Als Tochter, die ihre Eltern nicht belasten will, stellte man seine Gefühle und Bedürfnisse hinten an, um der Mama eine Stütze zu sein.
Wer dieses Muster einmal gelernt hat, wird es mit großer Sicherheit auch im Erwachsenenalter weiterführen:
Dinge werden positiv bewertet, die es eben nicht sind. Negative Gefühle werden umgedeutet, weil es Angst macht, sich dem Schmerz zu stellen. Man funktioniert, auch dann, wenn man kurz vor dem Zusammenbruch ist. Denn damals wurden die eigenen Bedürfnisse nicht gesehen und für wichtig erachtet. Warum sollten sie dann heute gesehen werden und wichtig sein?
Schau genau hin
Ständiges, zum erstrebenswerten Lebensstil erhobenes, positives Denken ist deshalb vergiftend, weil du aus einer Notsituation heraus gelernt hast, die Bedürfnisse deiner Seele und deines Körpers nicht wahrzunehmen oder gar zu verleugnen, geschweige denn sie zu erfüllen. Wenn du dadurch immer und immer wieder deine persönlichen Grenzen ignorierst und überschreitest, wird auf lange Sicht deine Psyche oder dein Körper krank. Oder auch beides.
Soll dies also ein Plädoyer sein für Miesepetrigkeit und hängende Köpfe?
Nein. Ich spreche mich aus für ehrliches Hinschauen. Für eine Existenzberechtigung aller Gefühle. Dafür, sie als wichtige Hinweise über die Bedürfnisse unserer Seele und unseres Körpers ernst zu nehmen. Für ein mutiges und ehrliches Hinschauen, das Negatives nicht ausklammert und Positives stärkt.
Dieses Hinschauen umfasst, die eigenen Ressourcen, Gaben und Stärken bewusst wahrzunehmen und zu suchen, sich darüber zu freuen und sie in die Waagschale zu werfen. Und gleichzeitig nicht auszuklammern, dass es auch im eigenen Leben Schweres und Begrenzungen gibt. Aktiv auch die eigenen schmerzlichen Erfahrungen in den Blick zu nehmen und somit sich selbst als Menschen, mit Verletzungen und Bedürfnissen, wert zu schätzen. Mit dieser Haltung gebe ich meiner Seele und meinem Körper die Chance, heil zu werden und schaffe die Grundlage für gelingende Beziehungen.
Henrike Brinkmann ist Lehrerin für Englisch und Evangelische Religion und Systemische Familienberaterin in eigener Praxis.
Sie bloggt zu Beziehungsthemen unter familien.fragen auf instagram und engagiert sich im CVJM Württemberg und im Evangelischen Jugendwerk
www.henrike-brinkmann.de