Alles ist neu. Das Berufsleben aufregend und spannend. Den Bachelor oder Master in der Tasche starten viele junge Arbeitskräfte motiviert ihre berufliche Laufbahn. Der Job als großes Abenteuer.
Sinn soll sie machen, die Arbeit, und Geld will man natürlich auch verdienen, Karriere machen, etwas bewirken in dieser Welt. Und viele Unternehmer werben noch immer mit genau diesen Slogans: Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt, wir haben flache Hierarchien, tolle Kollegen, ein firmeneigenes Fitnessstudio und, na klar – einen Kicker im Sozialraum, der gehört ja inzwischen zum Standard. Hier finden Sie ideale Startbedingungen für Ihre Laufbahn.
Unternehmer haben bereits in den 80iger Jahren aus Japan gelernt, wie man die Emotionenkarte ausspielt. Würden wir freiwillig arbeiten, wenn wir es nicht müssten? Wohl kaum.
Japan mit seinem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, sah sich plötzlich Ende der 60iger Jahre mit mysteriösen Todesfällen konfrontiert. Karoshi – nannte man das Phänomen, dass junge Mitarbeiter plötzlich ohne Vorwarnung starben am Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Wenn die berufliche Laufbahn tödlich endet
Wer wollte freiwillig arbeiten gehen, bei einer täglichen Arbeitszeit von 12 Stunden und das sieben Tage die Woche. Mittlerweile ist anerkannt, dass Menschen nicht über Jahre 6-7 Tage die Woche 12 Stunden arbeiten können, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen. 10.000 Japaner sterben pro Jahr an ihrer Arbeit.
Wie bringt man da noch Mensch und Job zusammen? Indem man die Emotionenkarte ausspielt. Zugehörigkeit – die Sehnsucht aller Menschen. Bei uns gehörst Du zum Team dazu. Wir sind füreinander da. Wir kümmern uns umeinander. Wir gehen nach der Arbeit gemeinsam noch was trinken. Das Fitnessstudio gehört zum Standard. Du bist uns als Mensch wichtig, darfst mitbestimmen, usw., usw.
Der Job als Familienersatz.
Was zu Hause nicht funktioniert, wird an der Arbeit kompensiert.
Was so verheißungsvoll beginnt, entpuppt sich dann schneller als man denkt als „Ökonomisierung des Lebens“. Natürlich hat der Chef Interesse daran, dass der Rücken des Mitarbeiters gesund und belastbar bleibt. Denn dann stimmt der Umsatz. Mitarbeiter, die gesund sind, arbeiten effizienter. Und Mitarbeiter, die sich dem Unternehmen und den Kollegen zugehörig fühlen, sind produktiver.
Nur: Viele Menschen kennen heute den entscheidenden Unterschied zwischen Familie und Arbeit nicht mehr. Eine berufliche Laufbahn ist kein Familienersatz. Zu einer Familie gehöre ich dazu, egal, wie es mir geht, was ich leiste oder eben nicht leiste. Werde ich krank, ist jemand für mich da, versorgt mich und kümmert sich um mich.
Zu einem Unternehmen gehöre ich nur und ausschließlich, wenn ich etwas leiste. Fällt meine Leistung weg, ist auch mein Job weg. Kein Chef steht dann mit der Kanne heißem Tee an meinem Krankenbett.
Emotionen ziehen nicht mehr
Die Generation Y, auch Millenials genannt (geboren in den 1980 -1990iger Jahren) ist die erste Generation, die mehr will. Sie haben bei ihren Eltern beobachtet, was die Arbeit aus ihnen gemacht hat. Krankheit, Burnout, Scheidung, keine Zeit für die Kinder, Freunde, Freizeit. Das Leben auf den Urlaub verschieben.
Schluss damit, sagen die Ypsilons. Wir wollen alles – Zeit für Partner und Kinder und Freizeit und Arbeit.
Immer mehr Männer tauchen im Coaching auf, die das bisherige Arbeitsbild auf den Kopf stellen. Sie wollen Teilzeit arbeiten, Elternzeit nehmen. Karriere um jeden Preis? Nicht mit ihnen.
Ich erinnere mich an einen aufstrebenden Wirtschaftswissenschaftler, der ins Coaching kam. Die Unternehmen lagen ihm zu Füßen. Er konnte gar nicht so schnell schauen, wie er die Karriereleiter hochsprinten hätte können.
Aber er wollte nicht mehr. Er hätte können. Aber er spürte, dass er mit jeder Sprosse einen Weg einschlug, der ihm Geld und Macht und Anerkennung gebracht hätte. Das aber war ihm zu wenig. Er wollte Familie, Zeit für Freunde. Und er wollte genießen, was er hatte, jetzt. Nicht erst im Urlaub oder irgendwann im Ruhestand.
Ein Einzelschicksal? Oder einer von vielen? Immer häufiger steigen vor allem Männer aus. Sehnen sich nach der Vereinbarung von Familie und Beruf.
Herzlichen Glückwunsch, liebe Männer. Das versuchen wir Frauen schon seit 100 Jahren.
Vielleicht könnten wir uns bei der Suche nach zielführenden Vorschlägen unterstützen.
Noch immer gibt es kein Patentrezept. Wer die Karriere vorantreibt, wird in den wenigsten Fällen genauso viel Zeit und Energie aufbringen für Partnerschaft und Familie.
Auffallend ist inzwischen, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle in Deutschland immer mehr junge Manager zwischen 30 und 40 Jahren betreffen. Japan ist längst in Deutschland angekommen. Karoshi gibt es auch hier.
Was ist zu tun?
Wir kommen nicht darum herum, eine gründliche Bestandsaufnahme unseres (beruflichen) Lebens zu machen.
Dabei ist es hilfreich, die richtigen Fragen zu stellen:
- Was ist Wesentlich in meinem Leben und worauf will ich unter keinen Umständen verzichten?
- Was würde sich auf meinem Sterbebett als Priorität Nr.1 herausstellen?
- Wozu möchte ich den nächsten Schritt in meiner beruflichen Laufbahn gehen?
- Weil andere in meinem Alter schon viel weiter sind?
- Weil Eltern und Freunde mir dazu raten?
- Weil ich Angst habe, ansonsten an Bedeutung zu verlieren?
- Weil es einfach logisch ist?
- Welchen Preis zahle ich, wenn ich die Karriere sausen lasse?
- Und welchen Preis zahle ich, wenn ich meine Karriere vorantreibe?
„Lass nicht zu, dass Dir das Wesentliche entgeht!“
Mit diesem Satz verabschiedete sich mein Schwiegervater vor vielen Jahren aus diesem Leben in seine himmlische Heimat. Was wirklich wesentlich ist, erkennen wir oft erst, wenn wir die Perspektive wechseln.