Die Reihenfolge stimmt nicht – ich will die Chance der Krise sehen und fürchte mich davor, meiner Angst in die Augen zu blicken.
Es ist erwiesen, dass Lebewesen, die nur die Chance und das Positive einer Veränderung gesehen haben, nicht aber die Gefahr, inzwischen ausgestorben sind.
Jede Veränderung wird von uns immer zuerst auf ihre Bedrohlichkeit überprüft, auf die Vor- und Nachteile abgeklopft, und erst dann können Chancen und Nutzen gesehen werden. Wer diese Reihenfolge umgeht, bleibt – emotional – auf der Strecke.
Als die Pandemie Deutschland überrollt und uns der Lockdown in die Knie zwingt, werde ich kurze Zeit später gefragt, ob ich ein Seminar als Webinar anbieten würde. Meine erste Reaktion: „Das kann ich nicht.“ In Sekundenschnelle schießt mir die Bedrohung durch den Kopf: Ich werde mich blamieren – Das habe ich noch nie gemacht – Das können andere besser.
Wie ein Webinar zu meiner persönlichen Bedrohung wird
Der Bedrohung: „Webinar“ setze ich automatisch die Frage entgegen: Bin ich dieser Bedrohung gewachsen? Mein Notfallsystem, das mir in solchen Fällen drei Handlungsstrategien vorschlägt reagiert augenblicklich:
1. Soll ich die Flucht ergreifen?
2. Ist es zu spät für Flucht, sollte ich kämpfen?
3. Soll ich mich tot stellen, weil ich einen Kampf nicht bewältigen kann?
Dieses Notfallsystem machte bei unseren Verwandten der Steinzeit Sinn. In Sekundenschnelle musste die Entscheidung „Flucht – Kampf – tot stellen“ fallen. Sie entschied über Leben und Tod.
Da ich nicht mehr in der Steinzeit lebe und keinem Säbelzahntiger gegenüber stehe, habe ich genügend Zeit, mich meiner Angst zu stellen.
Der Kampf in meinen Gedanken
Flucht? Ich erinnere mich an ähnliche Situationen in meinem Leben. Situationen, in denen ich ins kalte Wasser gesprungen bin und hinterher merkte: ich kann schwimmen und komme sogar am anderen Ufer an.
In vermeintlich bedrohlichen Situationen rutschen wir Menschen in alte, gewohnte Denkmuster hinein. Und genau das wird mir bewusst, als meine Tochter mich lachend ermutigt: „Hinterher wirst du wieder stolz sein, dass du es geschafft hast!“
Wo war dieser Gedanke? Kurzfristig verschüttet hinter den alten Gedanken aus einem früheren Leben: Du schaffst das nicht! – Dafür bist du noch zu klein! – Das wird wieder nichts.
Nachdem ich meiner Angst in die Augen geschaut habe, mache ich aus der Bedrohung Webinar eine Chance. Ich besuche selbst unterschiedliche Webinare, lasse mich inspirieren. Etwas zu tun, was ich noch nie getan habe, verursacht bei mir zuerst einen Hunger nach Informationen. Als ich viele Informationen gesammelt, ausgewertet und bewertet habe, wird aus der Bedrohung neugierige Freude.
Das Webinar selbst macht mir Spaß (okay, mit der Technik mancher Plattformen stehe ich noch etwas auf Kriegsfuß).
Als ich hinterher viele begeisterte Feedbacks bekomme, muss ich meiner Tochter recht geben: Ich bin stolz, es geschafft zu haben und weiß, das wird nicht mein letztes Webinar gewesen sein.
Angst hat viele Gesichter
In Change-Prozessen in Unternehmen fällt mir immer wieder auf, dass selten bis nie über das Gefühl Angst gesprochen wird. Angst macht sich im Management nicht gut. Dabei ist es völlig normal, auf Veränderungen mit dem oben beschriebenen Notfallsystem zu reagieren.
Selbst der Top-Manager, der sich über den Widerstand seiner Mitarbeiter in der Veränderung ärgert, wird selbst nicht anders auf Veränderungen reagieren.
Bei Angst denken viele Menschen automatisch an vor Furcht schlotternde Menschen, die sich die Decke über den Kopf ziehen und wie gelähmt auf den nächsten Einschlag warten.
Wer aber will schon so am Arbeitsplatz sitzen?
Angst macht sich aber im Arbeitsalltag oft ganz anders bemerkbar
- In Meetings diskutieren Mitarbeiter endlos miteinander und am Ende gibt es kein Ergebnis.
- Andere Mitarbeiter sind zu keinem vernünftigen Gespräch mehr fähig und ziehen sich zurück.
- Wieder andere geben barsche Antworten.
- Mitarbeiter sind selten erreichbar (z.B. im Homeoffice).
- Kunden und andere Mitarbeiter werden von oben herab behandelt.
- Offene und versteckte Drohungen und Intrigen.
Angst, die nicht wahrgenommen wird, kann nicht bewältigt werden.
In Change Prozessen ermutigen wir daher, die eigene Angst anzuschauen. Solange die Angst allgegenwärtig ist, wird es keine Sicht auf den Nutzen, die Vorteile oder die Chance der Veränderung geben.
Ich will mich meiner Angst stellen
Die „Webinar – Bedrohung“ hat mir mal wieder gezeigt, dass es gut ist, sich seiner Angst zu stellen. Ob Corona oder andere Herausforderungen, meine Gefühle sind richtig und wichtig, und es ist gut, zu schauen, wo sie herkommen
Was mir ganz praktisch hilft, wenn die Angst mir die Kehle zuschnürt:
- Tief durchatmen und innerlich einen ganzen Schritt zurücktreten
- Mit meinem Mann einen Spaziergang machen und meine Angst beim Namen nennen
- Mich an Herausforderungen erinnern, die ich in der Vergangenheit gemeistert habe
- Zu meiner Lieblingsplaylist tanzen und singen