Menschen entscheiden rational. Gefühle, wer braucht die schon? 1982 kommt ein Neurologe einem Geheimnis auf die Spur
Der portugiesische Neurologe Antonio Damasio kommt 1982 in Kontakt mit einem ungewöhnlichen Patienten. Elliot war ein Tumor aus dem Gehirn operiert worden, gleich hinter der Stirn. Der Tumor war klein und harmlos, doch die Folgen waren dramatisch.
Aus einem geschäftigen und belesenen Mann war ein scheuer und zurückhaltender Mensch geworden, der sich nichts mehr zutraute. Er hing stundenlang am Autoradio, weil er sich nicht für einen Radiosender entscheiden konnte. Er überlegte stundenlang, nach welchem Ordnungssystem er seine Unterlagen ablegen sollte. Denken konnte er noch bestens, sein IQ war unverändert. Aber er konnte keine Entscheidungen mehr treffen und verlor seinen Job.
Damasio unterzog ihn diversen Tests und kam auf die Erklärung: Elliot war emotional erkaltet. Er konnte sich nicht mehr entscheiden, weil sich alles gleich anfühlte. Seine Fähigkeit zu fühlen war verloren gegangen – und damit die Fähigkeit zu entscheiden.
Das
war eine völlig unerwartete Entdeckung. Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert
war die herrschende Meinung gewesen: Menschen entscheiden rational. Gefühle
stören dabei nur. Damasios Patient brachte eine andere Wahrheit ans Licht:
Ohne Gefühl ist der Verstand hilflos. Das Gehirn ausschalten und dem Bauch
folgen: Ist das also nun die Lösung?
Wie entwickeln wir unser Entscheidungsmuster?
Der Mensch wird nach Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie, mit einem Minderwertigkeitsgefühl geboren. Er strebt daher immer nach dem Positiven, will etwas Gutes erreichen. Kinder lernen schnell. Am wenigsten aus Worten, die ihnen gesagt werden. Am häufigsten lernen sie dagegen, weil sie ausprobieren, welche Entscheidungen welches Ergebnis liefern. Welche Handlungen führen zu positiven Ergebnissen, welche zu negativen?
Die erfolgreichsten Ergebnisse gehen als Sieger in unser Entscheidungsmuster ein. Was sich einmal als gut erwiesen hat, wird auch in Zukunft gut sein. Was sich bewährt hat, wird fortgeführt und bietet Sicherheit. In unterschiedlichen Verhaltensexperimenten wiesen Forscher nach, dass beispielsweise aus einer Reihe von verschiedenen Objekten jenes bevorzugt wird, welches man wieder erkennt.
Die Psychologen Timm Rosburg, Axel Mecklinger und Christian Frings von der Universität des Saarlandes konnten in einer neurologischen Untersuchung nachweisen, dass Menschen sich in ihren Entscheidungen von einer Art Vertrautheitsgefühl leiten lassen. Was man kennt, erscheint automatisch als weniger risikoreich und stellt somit die bessere Alternative dar.[1]
Familie und Entscheidungen
Entscheidungen funktionieren nur im Gegenüber mit anderen Menschen. Wir entscheiden immer im Zusammenspiel mit anderen Menschen. Niemand trifft Entscheidungen im luftleeren Raum. Ob wir entscheiden, unseren Kaffeekonsum zu reduzieren oder die nächste Stufe der Karriereleiter zu erklimmen, immer spielen die Meinungen und Gedanken unserer Umwelt dabei eine tragende Rolle.
Alfred Adler legt seiner Individualpsychologie den Gedanken zu Grunde, dass menschliche Gemeinschaft für die Entwicklung des Charakters, für jede Handlung und Gefühlsregung eines Menschen eine tragende Bedeutung hat[2].
Der Mensch ist das einzige soziale Wesen, das frei ist, seinen sozialen Bedürfnissen nachzugeben oder nicht. Kein Tier würde auf die Idee kommen, in Hungerstreik zu treten. Menschen aber können freiwillig hungern. Sie treffen diese Entscheidung, um zu protestieren, oder um spezielle Vorteile zu erreichen.
Selbstcheck
- Wie haben Ihr Vater/Ihre Mutter, Großeltern, Onkel und Tante entschieden?
- Mit welchen Sätzen sind Sie groß
geworden?
- Das entscheiden wir gemeinsam!
- Entscheide nicht sofort – Schlaf noch eine Nacht drüber!
- Du bist gar nicht in der Lage, solch eine weitreichende Entscheidung zu treffen!
- Abwarten und Tee trinken!
- Das musst Du selbst entscheiden!
Vier unterschiedliche Entscheidungstypen [3]
Entscheidungen
treffe ich, weil ich ein bestimmtes Ziel in meinem Leben habe. Menschen möchten
Erfolg haben, Sicherheit, Unterstützung und Anerkennung von anderen Menschen;
oder sie lieben es, wenn andere Menschen für sie arbeiten.
Die Grundrichtung der Persönlichkeit nach der Individualpsychologie kennt vier
Hauptziele
1. Ich möchte gewinnen!
2. Ich möchte Sicherheit!
3. Ich möchte, dass mich alle Menschen mögen!
4. Ich möchte meine Ruhe und keinen Stress!
Was ist das Ziel meines Lebens? Wenn ich gewinnen möchte, werde ich schneller als andere entscheiden, ich muss ja vor den anderen da sein. Wenn ich Sicherheit brauche, werde ich langsamer entscheiden und mich schwerer tun. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich pro und contra abwägen und alles Wissenswerte zu meiner Entscheidungsfindung erarbeiten.
Wenn die Meinung anderer Menschen im Vordergrund steht, werde ich genau hinhören, was andere sagen und erst dann entscheiden. Es ist mir wichtig, dass möglichst viele Menschen meine Entscheidungen gut finden. Und wenn ich meine Ruhe haben will, werde ich vielleicht erst dann entscheiden, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht. Und so werde ich dann hinterher sagen: Ich hatte keine Wahl.
Die Vergangenheit möchte ruhen…
Ebenso wie es in der Kommunikation den Satz „Du kannst nicht nicht kommunizieren.“ gibt, gibt es auch in Entscheidungsfragen das Statement: „Du kannst nicht nicht entscheiden.“ Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung. Am Ende eines endlosen Entscheidungs-prozesses entscheiden andere Menschen, indem sie gehen, mich verlassen, eine Entscheidung treffen zu Gunsten anderer Menschen.
Glückliche Menschen streichen aus ihrem Wortschatz Sätze, wie: „Hätte ich nur anders entschieden!“ Es ist völlig nachvollziehbar, mit vergangenen Entscheidungen zu hadern, vor allem, wenn man aktuell unzufrieden damit ist. Nur: Die Vergangenheit möchte ruhen, die Zukunft will erobert werden.
Die Angst vor falschen Entscheidungen bringt uns häufig dazu, Entscheidungen zu treffen, die nur kurzfristig zu einem befriedigenden Ergebnis führen.
Neu denken – Fehler machen
Hier kann uns eine andere Art zu denken weiterhelfen. Unser west-europäisches Denken ist beeinflusst vom griechischen Denken. Wir denken in Kategorien: schwarz – weiß; richtig – falsch; gut – schlecht; … Wir treffen Entscheidungen auf der Grundlage von Wissen und Vernunft.
Daher ist es nur logisch, dass unser Entscheidungsmuster auf Sicherheit besteht. Was wir kennen, erscheint logisch. Hebräisches Denken gibt uns den Freiraum, mutig neue Entscheidungen zu treffen, aus dem Boot der Sicherheit auszusteigen und uns auf das Fahrwasser von Unsicherheit, Mut und Neuem zu wagen.
Hebräisches Denken hat als Grundlage nicht Wissensvermittlung, sondern Anwendung und Erleben von Wissen. Lernen ist in erster Linie nicht Wissenstransfer, sondern Beobachten des Lehrers, Nachahmen, Ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Dadurch wird der Handlungsspielraum deutlich größer.
Ich darf Fehler machen, es darf etwas schief gehen. Das ist kein Weltuntergang, sondern die Möglichkeit, den Kurs zu korrigieren, Neues zu entdecken und auszuprobieren. Daher zielt Lernen im hebräischen Kontext nicht in erster Linie auf Wissensvermittlung, sondern auf Lebens- und Charakterveränderung.
Selbstcheck
- In welchem Bereich meines Lebens treffe ich immer wieder dieselben Entscheidungen und trete daher auf der Stelle?
- Wer oder was könnte mir dabei helfen, in einem bestimmten Bereich meines Lebens eine neue, mutige Entscheidung zu treffen?
[1] https://idw-online.de/de/news437388, zugegriffen am 18.07.2018
[2] Dreikurs, Rudolf, Grundbegriffe der Individualpsychologie, Klett Verlag, Stuttgart, 1969, S.16
[3] Nach dem Persönlichkeitstestverfahren „Grundrichtung der Persönlichkeit, GPI®“