„Eigentlich haben Sie das Zeug zu einer guten Rednerin. Sie sollten weiterhin am Homiletik-Unterricht (Methodik der Predigtlehre) teilnehmen. Leider sind Sie eine Frau und unser Konzept sieht keine Frauen als Pastoren vor.“
Mit diesen Worten verabschiedete mich der Homiletik Dozent vor zwanzig Jahren aus seinen Vorlesungen. Aus der Traum. Zwei Jahre zuvor startete ich voller Begeisterung in mein Studium. Menschen mit dem Evangelium erreichen, mit der besten Botschaft der Welt und dazu diakonisch tätig sein, das war mein Ziel. Evangelisation und Diakonie – meine Leidenschaft. Reden und Tun – Predigen und Handeln. Nun war der Traum geplatzt.
Als Pastorenfrau sollte ich künftig meinem Mann den Rücken stärken, Kinderstunden und Frauenkreise halten und ansonsten ein einladendes Haus haben und kochen. Das war ja nichts Schlechtes, nur halt nicht mein Lebenstraum.
Ist Gott gesetzlich?
Das erste Jahr als Pastoren prägt unsere Arbeit, unser Verständnis von Dienst für Gott, unseren Umgang miteinander und mit anderen Menschen. Ohne dass es uns bewusst ist, betreten wir ein menschliches Regelwerk, das dabei ist, unsere Persönlichkeit zu verbiegen, unseren Glauben an Gott zu untergraben und den Glauben an Menschen aufs Siegertreppchen zu stellen.
Wer in solchen Systemen etwas erreichen möchte, wer vorwärtskommen will, kann das nur, wenn er sich anpasst und den wichtigen und richtigen Menschen Anerkennung und Ehre gibt. Ich kann das nicht. Nach diesem ersten Jahr wird unser Vertrag nicht verlängert. Wir können gehen, man habe leider keine weitere passende Stelle für uns. Im Klartext höre ich: Ihr könnt euch nicht anpassen. Ihr stellt zu viele Fragen. Ihr seid unangenehm.
Zum ersten Mal höre ich diese leise Stimme in meinem Herzen: Was will ich wirklich? Was soll ich tun? Warum gibt es mich? Noch ist diese Stimme unscheinbar. Ein Flattern in meinem Herzen – mehr nicht. Wir bekommen eine zweite Chance, eine neue Gemeinde. Aber das Regelwerk bleibt dasselbe. Anpassung bis zum Umfallen. Wer stört, fliegt raus. Mein Bild von Gott verschwimmt immer mehr. Die Frage, was ich hier eigentlich soll, wird immer lauter.
Ich habe den Eindruck, im Glashaus zu sitzen. Jeder meiner Schritte wird beobachtet, bewertet – Daumen hoch oder runter. Das Leben findet in einem Käfig statt. Erlaubt ist, was den Leitern gefällt, alles andere kann weg. Leben heißt anpassen, mitmachen, verbiegen. Zwei Jahre später verlassen wir auch diesen Ort.
Mein Leben jenseits von Menschenfurcht
Mein Mann findet eine Arbeitsstelle als Klinikseelsorger. Ich bin für die nächsten Jahre Hausfrau und hauptberuflich Mutter unserer beiden Kinder. Und ich beginne damit, mein Leben anzuschauen, die Steine und Trümmer aufzuräumen. Und bekomme eine erste Ahnung davon, dass es ein Leben jenseits von Anpassung, Dogmen und Menschenfurcht gibt; dass ich wertvoll bin, auch wenn ich es wage, den Mund aufzumachen und gesetzliche Systeme zu hinterfragen.
In vielen Beratungsgesprächen sagen Menschen mir folgende
Sätze:
„Ich kann doch nicht meinen Job kündigen, was soll ich denn dann machen?“
„Ich kann doch nicht mein Haus verkaufen und ans Meer ziehen!“
„Ich kann doch nicht aus meiner Beziehung aussteigen!“
Dazu ernte ich meistens einen Blick zwischen Empörung und „Was-sind-Sie-doch-naiv“.
Und so bleiben die allermeisten Menschen weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Sie bleiben in Systemen und Regelwerken stecken, die ihre Persönlichkeit verbiegen bis es äußerlich sichtbar wird. „Ich habe Rücken“, sagt Deutschland. Mit unseren verbogenen Wirbelsäulen weisen wir auf unser verbogenes Leben hin, auf Unfreiheit, die uns krumm gemacht hat, auf falsche Hofknickse vor Menschen, die uns in die Sklaverei geführt haben. Warum tun wir das? Warum erlauben wir uns kein Leben in Freiheit? Warum tun wir nicht was wir wollen?
Wo ist der liebe Gott?
Viele Jahre hat es gedauert, bis ich begriffen habe: Das ist nicht Gott. Gott ist nicht eng, er hat ein weites Herz. Gott ist mein großer „Erlauber“. Er erlaubt mir ein Leben in Fülle, Reichtum und Erfolg. Er freut sich an mir und meinen Gaben. Und es ist ihm völlig schnuppe, was ein Homiletikdozent zu mir als Frau sagt.
Er holt mich auf Kanzeln und Bühnen, schenkt mir Freimut und Wagemut, sieht meine zitternden Knie kurz vor einem Auftritt, ermutigt mich und fordert mich heraus. Einen besseren Mentor, Vater und Freund kann ich mir gar nicht wünschen.
Als ich mich entschloss, aus Enge und Gesetzlichkeit herauszutreten, verlernte ich, vor Menschen zu zittern und auf ihre Anerkennung zu hoffen.
Zum Weiter-Denken:
- An welcher Stelle in Ihrem Leben erleben Sie Enge, Druck, Gesetzlichkeit?
- Vor welchen Menschen haben Sie Angst, wie zeigt sich die Angst?
- Was tun Sie, um Menschen zu gefallen?
- Woran würden Sie merken, dass Sie plötzlich frei sind?
- Welche Schritte sind notwendig, um frei zu leben und zu arbeiten?